kath.ch Medienspiegel – 10.03.2025, 12:26 Trotz Wölfen und Wahlen: Ist der Stadt-Land-Graben ein Hirngespinst?Trotz Wölfen und Wahlen: Ist der Stadt-Land-Graben ein Hirngespinst? Geschichte einer Zerreissprobe Das Misstrauen zwischen Stadt und Land reicht zurück ins Mittelalter und führte gar zu Kriegen. Heute sieht Historiker Nadir Weber vor allem eines: einen geschickt bewirtschafteten Mythos. Michael Feller Markus Ritter oder Martin Pfister oder die/der überraschende Dritte? Vor der Bundesratswahl fragt sich die halbe Schweiz mal wieder: Wieder ein Bauer, noch einer vom Land? Ist die Stadt angemessen vertreten, ja ist die Regierung künftig überhaupt in der Lage, die Lebensrealität der vielen Menschen in urbanen Gegenden abzubilden? Windräder, Wolf und Wahlen: Bei einigen Reizthemen kommt der Stadt-Land-Graben besonders gut zum Vorschein – und wer die Kommentarspalten zum Indikator des Zustands unserer direkten Demokratie nimmt, muss zum Schluss kommen, dass das Land heillos zerstritten ist. Auf der einen Seite sind da die gesellschaftspolitisch progressiven, tendenziell links und grün wählenden Stadtbewohner, auf der anderen die Landbevölkerung, die an guten, alten Werten festhält. Die angeblichen Blockierer vom Land gegen die angeblichen Besserwisserinnen aus der Stadt, die den anderen sagen, wo es langgeht. Diese Differenzen zwischen ländlichem und urbanem Raum sind nichts Neues. «Ja, Stadt versus Land ist eine der Bruchlinien, die die schweizerische politische Kultur schon länger prägen – neben anderen», sagt Nadir Weber, Professor für ältere Schweizer Geschichte an der Universität Bern. Unterschiede in den Lebensrealitäten gab es bereits im Mittelalter. Damals entwickelten sich die Schweizer Städte zu Zentren des Gewerbes und des Handels. Die Bäuerinnen und Bauern vom Land verkauften auf dem städtischen Markt ihre Lebensmittel und deckten sich vor dem Nachhauseweg beim Schuhmacher, in der Sattlerei oder beim Kesselschmied ein. Die Berufsfelder begannen sich zu unterscheiden und mit ihnen der Blick aufs Leben. Der verstärkte Handel führte nach und nach zu Reichtum in den Städten. Das ökonomische Gefälle zwischen Stadt und Land ist seither Thema – wenn auch kein konstantes. So führte etwa in vielen europäischen Städten die Industrialisierung im 19. Jahrhundert zu einer Verarmung der städtischen Arbeiterschicht. Schüsse in Zürich Mentalitätsunterschiede zwischen Stadt und Land sind also fast so alt wie die Unterscheidung selbst. Und bisweilen führten sie zu handfesten Konflikten, bei denen eine heutige Debatte um das Für und Wider des Wolfsabschusses wie eine rhetorische Neckerei wirkt. Im Bauernkrieg von 1653 etwa starben Dutzende Menschen. Im Emmental und im Entlebuch wehrte sich die Landbevölkerung gegen die hohen Steuern, die aus den Städten Bern und Luzern erhoben wurde. Der Konflikt dehnte sich auf weitere Gebiete aus. Letztlich endete er in einer klaren Niederlage der aufständischen Landbevölkerung, die Anführer wurden gefoltert und hingerichtet. Oder der Züriputsch von 1839, als sich die modernisierungskritische Landbevölkerung gegen die damalige politische Strömung der Regeneration auflehnte, also unter anderem gegen die Bestrebungen, die Schulbildung von der Kirche abzutrennen. Der Konflikt eskalierte in der Stadt Zürich, Schüsse fielen, unter anderen starb ein Regierungsrat. Daraufhin erlebte Zürich einige politisch chaotische, reaktionäre Jahre. Das unterdrückte Land, das sich gegen die Stadt erhebt: «Es ist noch immer ein stark etabliertes Geschichtsbild, dass die ländliche Schweiz die eigentliche Schweiz sei», sagt Historiker Nadir Weber. Das kommt nicht von ungefähr: «Bei der Entstehung der Eidgenossenschaft spielten Städte wie Bern und Zürich zwar eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie die sogenannten Urkantone. Doch bereits im 15. Jahrhundert setzte sich eine Vergangenheitserzählung durch, die ‹fromme edle Bauern›, die sich gegen tyrannische Vögte wehrten und so die Schweizer Freiheit begründeten, ins Zentrum setzte.» Die Landsgemeinden waren zwar in sich alles andere als egalitär, und in den städtisch dominierten Orten galten die Landbewohnerinnen und -bewohner generell als Untertanen. «Im europäischen Vergleich hatte die Landbevölkerung in der Eidgenossenschaft aber materiell und symbolisch dennoch einen wichtigen Status.» Während die meisten europäischen Gebiete zentralistisch organisiert waren und die ländlichen Gegenden wenig zu melden hatten, war das in der Eidgenossenschaft anders. Selbst in den Stadt-Orten wie Bern oder Zürich mit relativ mächtigen und reichen Zentren liess sich das Umland nicht einfach so unterdrücken, wie das Beispiel des Bauernkriegs zeigt. Zerrbild Stadt-Land-Graben Nadir Weber setzt bei der These, wonach der Stadt-Land-Graben eine politische Konstante sei in der Schweiz, aber aus einem anderen Grund ein grosses Fragezeichen. «Wenn man nur die bekannten Konflikte und die heutige Debatte um den Stadt-Land-Graben herbeizieht, entsteht ein verzerrtes Bild», sagt Weber. Fokussiert man sich darauf, entsteht der Eindruck, Geschichte sei die zeitliche Abfolge von Kriegen, Seuchen, Mord und Totschlag. Dabei übersieht man die Phasen des Friedens. Es ist ein Irrtum, dem die Geschichtsschreibung lange auch unterlegen ist. Während Konflikten und Krisen wurden mehr Quellen produziert. Dieser Aspekt ist Nadir Weber auch bei der Frage nach der historischen Bedeutung des Stadt-Land-Grabens wichtig. «Wenn man über die ganze Geschichte schaut, gab es viel Kooperation und eigentlich relativ wenige Konflikte.» Zwar stellt er abweichende Mentalitäten etwa durch andere Berufsfelder oder andere Gesellschaftsstrukturen nicht in Abrede. «Doch bereits im Mittelalter und in der frühen Neuzeit überschnitten sich die Lebenswelten vielfach.» Land verlor – und profitierte Auch in den ländlichen Gemeinden habe eine Differenzierung stattgefunden. Die ländliche Gesellschaft war nicht ausschliesslich bäuerlich, auch in den Dörfern entwickelte sich das Gewerbe. Man war aufeinander angewiesen und arrangierte sich, auch wenn dann und wann die Macht der reichen Städter spürbar wurde. Und doch war man auf Ausgleich bedacht. «Man sieht es beim Bauernkrieg. Die rebellische Landbevölkerung zog zwar eine Niederlage ein – doch bei der Bewältigung der Krise wurden ihre Interessen mitberücksichtigt», sagt Nadir Weber. Von ihren absolutistischen Tendenzen sah die Stadt Bern nun ab, gewisse Autonomierechte der Untertanengebiete wurden besser akzeptiert. «Im 18. Jahrhundert investierten die Berner Patrizier viel in das Land und wollten so den Wohlstand und die ‹Glückseligkeit› der Landbevölkerung steigern», sagt Weber. So wurden Strassen gebaut und Kornkammern für Versorgungskrisen angelegt. Weber gibt auch zu bedenken, dass andere Konfliktlinien vielfach weit bedeutender waren in der Schweizer Geschichte. Insbesondere jene zwischen den Konfessionen: Mehrfach kam es zu Kriegen zwischen den Konfessionsblöcken, wobei die Landbewohner auf beiden Seiten in der Regel loyal mit ins Feld zogen. Dass diese Konfliktlinien – oder Cleavages, wie die Politikwissenschaft sie nennt – meist nicht deckungsgleich waren, hat sich für das Land als Glücksfall herausgestellt. Katholisch waren mehrheitlich die Landkantone, aber nicht ausschliesslich: Auch Solothurn und Freiburg waren katholisch. Ebenso verhält es sich mit den Sprachregionen. «Die je nach Thema wechselnden Bündnisse haben paradoxerweise zur Stabilisierung beigetragen.» Selbst Ländliches ist urban Heute sieht Weber im historischen Vergleich weit weniger Unterschiede in den Lebensrealitäten. «Auch die sogenannte ländliche Schweiz lebt nun in stark urbanisierten Verhältnissen», sagt er. Die Menschen nutzen dieselben Medien wie in den Städten, sind durchs Internet mit der Welt vernetzt, viele pendeln für die Arbeit vom Land in die Stadt. Nicht wenige Stadtbewohnerinnen und -bewohner träumen zudem von einem Einfamilienhaus im Grünen, wenn die Familiengründung ansteht. «Die Unterschiede sind nicht mehr so gross, wie sie vielleicht manchmal scheinen», meint Weber. Den Konflikt zu bewirtschaften, sei indes auch eine Strategie einzelner Parteien, um durch das Schüren von Unzufriedenheit zusätzliche Wählerinnen und Wähler an die Urnen zu locken. Der historische Mythos einer sich wacker gegen die Übermacht der Eliten wehrenden Landbevölkerung kann dabei reaktiviert werden. Auch wenn man also bei der Wolfsdebatte den Eindruck einer zerstrittenen Gesellschaft erhalten könnte: Es handelt sich wohl um ein Zerrbild. Quelle: Der Bund |