kath.ch Medienspiegel – 09.07.2023, 08:05 Was man Eltern sagt, die ein Kind verloren habenStirbt ein Kind an Krebs, wissen Freunde der betroffenen Eltern oft nicht, wie sie reagieren sollen. Unsere Autorin hat eine Anleitung aus sehr persönlicher Sicht geschrieben.Eines Nachts, etwa einen Monat nachdem unser geliebter 12-jähriger Sohn an einem seltenen Hirntumor gestorben war, träumte ich, dass ich in einem riesigen Saal voller Menschen stand und mich bereit machte, eine Rede zu halten. Aber egal wie oft ich das Publikum anflehte, ruhig zu sein und zuzuhören, sie ignorierten mich. Sie schrien über mich hinweg. Sie unterhielten sich untereinander. Ich versuchte, die Leute zu übertönen, aber es gelang mir nicht. Meine Notizen waren unleserlich. Ich hatte vergessen, was ich eigentlich sagen wollte. Dieser Traum steht für die gemischten Reaktionen, die uns erreichten, als unser lieber Sohn am 23.März 2023 am Shaare Zedek Medical Center in Jerusalem nach einem grauenhaften Jahr voller Operationen, Bestrahlungen, medikamentöser Behandlungen und Hospitalisierungen starb. Die meisten Freundinnen und Freunde unterstützten uns vorbehaltlos und besuchten uns während der traditionellen jüdischen Schiwa, hörten sich Geschichten über unseren Sohn an, brachten Essen und boten mir, meinem Mann und unserer 12-jährigen Tochter (unsere Kinder sind Zwillinge) ihr Mitgefühl, ihre Freundschaft und ihr Beileid an. Viele Leute mussten aber zugeben, dass sie nicht wussten, was sie angesichts eines derart katastrophalen Verlustes sagen sollten. Also sagten sie nichts. Oder sie sagten irgendetwas, statt über unseren aufgeweckten, fröhlichen, schulisch erfolgreichen, einfallsreichen, tapferen und lieben Jungen zu sprechen, der jeder Herausforderung mit Optimismus und Hoffnung begegnet war. Einige wenige Leute kamen zur Schiwa und unterhielten sich mit Freunden, obschon sie sich in einem Haus aufhielten, in dem um ein Kind getrauert wurde. Ein Besucher lachte laut, als ich beschrieb, wie traurig ich sei, die Kleider meines Sohnes nicht mehr waschen zu können, und dass ich deshalb überlege, seine sauberen Kleider zu waschen (es war kein Witz). Aber ebenso quälend sind die Bemerkungen von Freunden, die zwar tröstlich gemeint sind, mein Herz aber durchbohren, anstatt es zu trösten. Hier ist deshalb ein Leitfaden dazu, was man Eltern, die um ihr Kind trauern, sagen soll. Es ist eine Fortsetzung meines früheren Artikels. Dort ging es darum, was man Eltern eines Kindes mit einem Hirntumor sagen soll und was nicht. Bitte sagt «Euer Verlust tut uns sehr leid», «Wir lieben euren Sohn», «Wir lieben euch», «Wir senden euch unsere Liebe und Kraft», «Wir denken an euch und eure Familie», «Wir sind für euch da», «Wir trauern mit euch» und andere unterstützende und freundliche Dinge. Bitte teilt glückliche Erinnerungen, Geschichten und Fotos von unserem lieben Sohn. Wie eine neuere schwedische Studie zeigt, kann ein unterstützendes soziales Netzwerk von Familie und Freunden sowie die Betreuung der verbleibenden Kinder Familien helfen, den verheerenden Verlust eines Kindes durch Krebs zu bewältigen. Die Pflegerin und Psychologin Lilian Pohlkamp von der Marie-Cederschiöld-Universität in Stockholm interviewte 232 Elternteile (zwei Drittel waren Mütter, ein Drittel Väter), die ein Kind durch Krebs verloren hatten, und fragte sie, was geholfen habe, ihre Trauer zu lindern. Ihre Antworten waren: «enge Freunde, die immer ein offenes Ohr hatten», «mein Partner», «meine Familie und unser Familienleben». Eine Möglichkeit, unsere Familie zu unterstützen, ist die Teilnahme an der Whatsapp-Gruppe für unseren Sohn. Mein Mann startete die Gruppe am 11.März 2022, dem Tag, an dem sich unser Sohn seiner ersten siebenstündigen Operation unterzog, in welcher der Primärtumor entfernt werden sollte. Im Laufe des Jahres haben wir regelmässig über den Fortschritt unseres Sohnes berichtet. Nachdem er gestorben war, teilten wir weiterhin Fotos und Videos unseres Sohnes: wie er eine Minute lang über die Wichtigkeit des Lächelns sprach; wie er im Sommer 2019 auf Motta Naluns oberhalb von Scuol zusammen mit seiner Schwester «Die Berge leben, mit dem Klang der Musik» sang; wie er im November 2022 das Ende der zweiten Bestrahlungsrunde feierte. Ein Foto oder Video unseres tapferen Jungen mit einem Herz-Emoji zu versehen, mag einem als kleiner Akt erscheinen, für uns kann es aber sehr tröstlich sein. Wie Pohlkamps Studie zeigte, konnten Eltern ihre Trauer besser bewältigen, wenn sie sich an die Kraft ihres verstorbenen Kindes erinnerten oder Erinnerungen an gemeinsame Reisen pflegten. Wenn aber Freunde oder Bekannte nicht über das verlorene Kind sprechen wollten, verursachte dies bei den Eltern Traurigkeit, Enttäuschung und Einsamkeit. Was mich betrifft, so fand ich die unvermeidliche Frage «Wie geht es dir?» schwer zu beantworten. Wenn ich ehrlich antwortete: «Ich bin traurig», löste dies oft Schweigen bei meinem Gesprächspartner aus. Sagte ich nichts, war es peinlich. Aber es war mir nicht möglich, mit «gut» oder «okay» zu antworten, weil es mir nie gut geht. Anstelle des routinemässigen «Wie geht es dir?» ist es also besser, zu sagen: «Es ist so schön, dich zu sehen.» Es ist zulässig und sogar willkommen, über den Verlust meines Sohnes zu sprechen. Nicht akzeptabel sind mystische Prophezeiungen über das Leben nach dem Tod: Sie können nicht davon ausgehen, dass ich Ihren Glauben teile. In einer kürzlich in der Zeitschrift «Religions» veröffentlichten Studie heisst es: «Der Tod eines Familienmitglieds kann als Akt eines böswilligen Gottes [oder aber] als Gelegenheit für spirituelles Wachstum und vertieften Glauben wahrgenommen werden.» Sagen Sie also nicht: «Ihr Sohn ist jetzt ein Engel», oder: «Er ist auf die andere Seite hinübergetreten.» Bitte sagen Sie nicht, dass im Himmel «eine Riesenparty stattfindet, dass alle Engel und die besten Seelen der Welt die tollste Willkommensparty» für unseren Sohn vorbereiten. Wichtig zu sagen ist, dass mein Sohn nie eine Gelegenheit verpasst hat, an einer Party für seine Freunde oder an einer Familienfeier teilzunehmen, egal wie schwach oder krank er war. Zwei Tage vor seinem Tod kam ein Team von Spitalclowns am Shaare-Zedek-Spital in sein Zimmer, tanzte und sang mit uns und brachte anschliessend unseren Sohn im Rollstuhl zum Aquarium in Jerusalem, wo er Haie, schwangere gelbe männliche Seepferdchen und tropische Fische sah. Er stellte gute Fragen und sagte, der Besuch sei «grossartig» gewesen. Tatsächlich zeigte eine kürzlich durchgeführte Studie unter der Leitung von Orit Karnieli-Miller, Leiterin der Abteilung für medizinische Ausbildung an der Universität Tel Aviv, dass Spitalclowns eine Bindung zu Patienten aufbauen und deren Gefühl von Kontrolle, Fürsorge und Ermutigung stärken können. Bitte sagen Sie nicht: «Zu wissen, dass er nicht leidet, hat mir einen Moment des Friedens gegeben.» Mein Sohn hat nicht ununterbrochen gelitten, er hatte gute Tage und sogar gute Monate während seiner Krankheit. Er war meistens gut gelaunt und in der Lage, das Positive zu sehen, selbst wenn er mit einer Menge von schlechten Nachrichten fertigwerden musste. Er konnte Witze reissen und lachen, auch als er das Leben schwierig fand. Zu wissen, dass er «nicht leidet», weil er gestorben ist, ist also in keiner Weise tröstlich. Sagen Sie nicht: «Das Leben Ihres Sohnes war kurz, aber gut.» Es stimmt sicher, dass mein Sohn in seinen zwölf kurzen Jahren viel erreichte: Er war Unternehmer, ein begabter Klavierschüler, ein Comiczeichner und gewann in der vierten Klasse den ersten Preis bei einem Programmierwettbewerb in Jerusalem. Umso schmerzlicher ist der Gedanke an all die Möglichkeiten, die er gehabt hätte, wenn ihm nicht eine schreckliche Krankheit das Leben geraubt hätte. Was gibt mir kleinen Trost? Die freundlichen Gedanken meiner Freunde und die Unterstützung durch meine Familie. Das Schauen und Teilen von lustigen Videos von meinem Sohn, wie er mit seiner Schwester schaukelt, alberne Lieder singt oder Root-Beer trinkt. Das Wissen, dass die Bindung, die wir zu unseren Kindern aufbauen, wenn sie geboren werden, niemals zerstört werden kann, auch wenn mein Sohn physisch nicht mehr bei uns ist. Am wichtigsten ist vielleicht, dass ich mich um meine Tochter kümmere, sie morgens zur Schule begleite, mit ihr über ihre Zukunftspläne rede und mit ihr und meinem Mann, meiner Familie und meinen Freunden über unseren unglaublichen, wunderbaren Sohn spreche, der immer in unseren Herzen sein wird. Übersetzung aus dem Englischen und Bearbeitung: Theres Lüthi Wichtig zu sagen ist, dass mein Sohn nie eine Gelegenheit verpasst hat, an einer Party für seine Freunde teilzunehmen. Quelle: NZZ am Sonntag https://www.kath.ch/medienspiegel/was-man-eltern-sagt-die-ein-kind-verloren-haben/ |